B. Gausemeier u.a. (Hrsg.): Human Heredity in the Twentieth Century

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Titel
Human Heredity in the Twentieth Century.


Herausgeber
Gausemeier, Bernd; Müller-Wille, Staffan; Ramsden, Edmund
Reihe
Studies for the Society for the Social History of Medicine 15
Erschienen
Anzahl Seiten
XVIII, 302 S.
Preis
£ 60.00
Rezensiert für H-Soz-Kult von
Dirk Thomaschke, Institut für Geschichte, Carl von Ossietzky Universität Oldenburg

2001 startete ein großes Forschungsprojekt zur Geschichte der Vererbung am Max-Planck-Institut für Wissenschaftsgeschichte sowie der University of Exeter unter der Leitung von Hans-Jörg Rheinberger und Staffan Müller-Wille. Die Ergebnisse sind in mehreren Tagungsbänden zur Wissenschafts- und Kulturgeschichte von Erblehre und Genetik seit der Frühen Neuzeit sowie einer maßgeblichen Monografie der Projektleiter dokumentiert worden.1 Während sich die bisherigen Veröffentlichungen auf die Erforschung von Pflanzen, Tieren und Mikroorganismen konzentrierten, die für die genetische Grundlagenforschung entscheidend waren, stellt der vorliegende Tagungsband zum Abschluss ausdrücklich die menschliche Vererbung ins Zentrum.

Dies ist außerordentlich zu begrüßen, da die Geschichte der menschlichen Erbbiologie im Unterschied zu Großbritannien und den USA in vielen Ländern, darunter auch Deutschland, erst ansatzweise erforscht worden ist. Das gilt insbesondere für die Eugenik der zweiten Hälfte des 20. Jahrhunderts. Der Sammelband steht im Kontext zahlreicher Bemühungen jüngeren Datums, die klassische Unterscheidung von „mainline“ und „reform eugenics“ im angloamerikanischen Raum bzw. die Zentrierung auf die Rassenhygiene im deutschsprachigen Raum zu differenzieren und letztlich zu überwinden. Hierzu sind gerade Längsschnittstudien des 20. Jahrhunderts, die über die bisher angenommene Epochenschwelle der 1960er- und 1970er-Jahre hinausgehen, von besonderem Wert.

Etwas bedauerlich ist es deshalb, dass nur drei der insgesamt sechzehn Beiträge des Sammelbandes die Jahrzehnte ab 1970 bis zur Gegenwart genauer beleuchten: Alexander von Schwerin rekonstruiert die Bedeutung von Tierversuchen für die menschliche Genetik und Entwicklungsbiologie von 1920 bis 1990; Anne Cottebrune setzt den Ausbau der humangenetischen Beratung in der Bundesrepublik Deutschland bis zu den 1980er-Jahren mit „alten“ eugenischen Motiven in Verbindung; Diane B. Paul schildert die „Genetifizierung“ der Phenylketonurie (PKU), einer angeborenen Stoffwechselstörung, zwischen den 1930er-Jahren und der Gegenwart. Demgegenüber stellt der Großteil der Aufsätze die – zweifelsohne sehr wichtigen – Anfänge der biochemischen und molekularen Humangenetik zwischen dem Ende des Zweiten Weltkriegs und den späten 1960er-Jahren in den Mittelpunkt. Die geschichtswissenschaftliche Erforschung der für die menschliche Vererbung und die diesbezüglichen Diskurse ebenso entscheidenden Jahrzehnte der Gentechnologie und Genomik steht weitgehend noch aus.

Zudem widmen sich nur wenige Artikel der Arbeit an einer „Lokalisierung“ der bislang auf internationale, insbesondere angloamerikanisch dominierte Diskurse gerichteten Genetik-Geschichte. Pascal Germann verfolgt in seinem Beitrag die Marginalisierung des Rassenbegriffs in der Schweiz zwischen 1944 und 1956. Der Autor fordert eine größere Aufmerksamkeit für „the very different local conditions under which research practices took place“ (S. 86). Der Beitrag von Edna Suárez-Diaz und Ana Barahona, der sich dem Verhältnis medizinischer und anthropologischer Forschung in Mexiko von 1945 bis 1970 widmet, wirft hingegen die postkoloniale Frage nach Zentrum und Peripherie auf. Die Autorinnen sprechen sich für eine Verflechtungsgeschichte aus; die Wechselseitigkeit von „regional and global level“ sei künftig stärker zu würdigen (S. 101).

Hier bleibt viel Raum für neue Forschungen, was dem Tagungsband allerdings kaum als Defizit angelastet werden kann. Seine Bedeutung liegt gerade darin, wertvolle Perspektiven in einem weitgehend unbearbeiteten Feld zu eröffnen. Um der Vielfältigkeit und der Wandlungsfähigkeit ihres Gegenstands gerecht zu werden, sprechen die Herausgeber im Titel sowie der Einleitung ausdrücklich von „human heredity“ statt beispielsweise von „human genetics“. Dies soll die Offenheit gegenüber einem breiten Spektrum an Praktiken, Konzepten und Institutionen gewährleisten, die im Laufe des 20. Jahrhunderts nicht nur disziplinäre Grenzen überschritten, sondern auch in wechselnden sozialen Kontexten gestanden hätten. Eine solche, komplexe Betrachtung der Geschichte der menschlichen Vererbung trage nicht zuletzt dazu bei, sie in ihrer Eigenständigkeit gegenüber dem wissenschaftsgeschichtlich dominanten „mainstream narrative of genetics“ (S. 2) zu konturieren.

Bereits der auf die Einleitung folgende Beitrag von Bernd Gausemeier zur Debatte um die etwaige Erblichkeit erhöhter Tuberkuloseanfälligkeit in der ersten Hälfte des 20. Jahrhunderts zeigt einige wichtige Problemfelder auf, die sich aus dieser Perspektive ergeben und die zahlreiche Aufsätze des Bandes durchziehen. Zum Ersten rückt Gausemeier die Vielzahl der beteiligten Akteure und Interessen in den Blick. Er unterstreicht damit zugleich eine der Leitthesen des Gesamtprojekts, die Rheinberger und Müller-Wille in verschiedenen Publikationen betont haben: dass die Faszination und Produktivität des Gen-Begriffs im 20. Jahrhundert maßgeblich auf seiner Unschärfe und Vielgestaltigkeit beruhe. Des Weiteren macht Gausemeier deutlich, dass die Erforschung humangenetischer Fragen – besonders im Vergleich zur experimentellen Genetik – in aller Regel auf einer fragwürdigen Datengrundlage fußte. Bei den vielfältigen Versuchen, diese Leerstellen praktisch zu umgehen, waren die Vererbungsforscher in besonderem Maße auf (sich wandelnde) gesellschaftliche Institutionen, Gesetze und Normen angewiesen, aber auch auf die Kooperation mit Experten vieler anderer Bereiche und mit Laien. Gausemeier demonstriert dies am Beispiel des Erbstatistikers Karl Pearson, der um 1900 von der Einrichtung spezieller Tuberkulose-Sanatorien profitierte. Sein deutscher Kollege Wilhelm Weinberg orientierte sich hingegen an einem in Württemberg geführten Familienregister. Einen katalytischen Effekt auf die Tuberkuloseforschung habe dann vor allem der Erste Weltkrieg gehabt.

Analog zeigt Jenny Bangham, wie die Anfänge der populationsgenetischen Forschung während des Zweiten Weltkriegs in Großbritannien mit den umfangreichen Datensammlungen der Blutspendedienste verbunden waren. Der bereits angesprochene Aufsatz von Pascal Germann bestätigt diese Zusammenhänge am Beispiel von Blutgruppen-Erhebungen an insgesamt 270.000 Soldaten der Schweizer Armee ab 1944. Die bereichsübergreifende Institutionenabhängigkeit humangenetischer Forschungen betont auch Veronika Lipphardt, die das Fortwirken und die Transformation der älteren Rassenforschung in den 1950er-Jahren erläutert. Populationsgenetische Studien zu „Fortpflanzungsgemeinschaften“, die in der Nachkriegszeit weltweit durchgeführt wurden, seien stets auf „bio-historical narratives“ (S. 65) angewiesen gewesen. Populationsgenetiker mussten geistes- und sozialwissenschaftliche Berichte sowie eine Reihe nicht-wissenschaftlicher Quellen heranziehen, etwa Genealogien oder mündliche Überlieferungen.

Die Autorinnen und Autoren des Bandes behalten stets im Blick, dass diese Abhängigkeit der Forschung zur menschlichen Erbbiologie von verschiedenen gesellschaftlichen Einrichtungen und Ereignissen oftmals eine Symbiose darstellte, von der beide Seiten profitieren konnten und die nicht ohne Rückwirkungen auf das humangenetische Forschungsdesign blieb. Deutlich wird auch, dass die Wissenschaft bis in die 1960er-Jahre kaum datenschutzrechtliche Bedenken hatte. An vielen Stellen zeigen sich umfassende Verdatungs-Fantasien, die danach strebten, möglichst viele menschliche Populationen in genetischer Hinsicht möglichst vollständig zu erfassen. Ebenso klar wird dem Leser, wie groß die Faszination und die scheinbare Evidenz von Erblichkeitsstudien am Menschen trotz ihrer in der Regel lückenhaften Datengrundlagen waren.

Ein weiterer übergreifender Aspekt ist der Einfluss praktischer Interessen auf humangenetische Forschungskonzepte. Gausemeier zeigt etwa, wie vor allem die medizinische Operationalisierbarkeit zur Erhaltung eines aus erbbiologischer Sicht problematischen Konstitutionstypen-Konzepts beigetragen habe. In vergleichbarer Weise scheint in vielen anderen Beiträgen auf, wie (sozial)hygienische, eugenische, medizinische oder auch wirtschaftliche Interessen dazu führten, wissenschaftlich unzureichende Paradigmen zu beleben. Nur ein Beispiel: Soraya de Chadarevian erwähnt in ihrem Text zu den Anfängen menschlicher Chromosomenforschung, wie das Potential, das in den 1960er-Jahren in der Chromosomen-Diagnostik für juristische Gutachten zu Straftätern gesehen wurde, dazu beigetragen habe, im Grunde nicht nachweisbare Zusammenhänge zwischen Erbanlagen und Delinquenz weiterhin zu erforschen.

Neben den genannten Schwerpunkten tragen die Aufsätze zu einer Vielzahl weiterer, wissenschaftsgeschichtlich relevanter Themen bei. Dass hier nicht alle Aspekte hinreichend gewürdigt werden können, liegt allerdings auch an einer gewissen Heterogenität der Komposition des Bandes und der Einzelbeiträge (die fünf gliedernden Sektionen zu Erhebungen [Surveys], Blutgruppen, Laborforschung, Krankheit und wissenschaftlichen Disziplinen geben nur eine grobe Orientierung). Aufgrund des bislang wenig kanonisierten Forschungsfeldes verwundert es jedoch nicht weiter, dass der Sammelband streckenweise kaleidoskopisch wirkt. Er leistet wichtige Pionierarbeit und liefert eine Fülle von Einzelanregungen sowie größere Interpretationslinien. Die Autorinnen und Autoren bewegen sich nahezu durchgehend auf einem hohen Reflexionsniveau, an dem sich weitere Studien messen lassen müssen.

Für die Forschungslandschaft zur Vererbungsgeschichte im Allgemeinen bleibt zu wünschen, dass sie einen stärkeren Anschluss der im engeren Sinne wissenschaftsgeschichtlichen Arbeiten an kultur- und gesellschaftsgeschichtliche Diskussionen zur Zeitgeschichte im Allgemeinen herstellt. Fragen zum Verhältnis von Individuum und Gesellschaft oder auch zur Sicherheitsgesellschaft, wie sie in einigen Beiträgen angerissen werden, würden sich dafür besonders anbieten.

Anmerkung:
1 Max-Planck-Institut für Wissenschaftsgeschichte (Hrsg.), A Cultural History of Heredity, 4 Bde., Berlin 2002–2008; Hans-Jörg Rheinberger / Staffan Müller-Wille, Vererbung. Geschichte und Kultur eines biologischen Konzepts, Frankfurt am Main 2009.